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Auswirkungen des automatischen Informationsaustausches (AIA) auf Selbstanzeigen

Kritische Stellungnahme zur Haltung der ESTV

Am 15. September 2017 hat die ESTV ihre Haltung in Bezug auf die Auswirkungen des AIA auf (straflose) Selbstanzeigen publiziert. Gemäss Ansicht der ESTV soll die Steuerverwaltung spätestens ab dem 30. September 2018 von den dem AIA unterliegenden Steuerfaktoren Kenntnis haben, so dass spätestens ab diesem Zeitpunkt für diese Steuerfaktoren keine straflose Selbstanzeige mehr möglich sein soll. Diese absolute Datums-Guillotine ist gleich aus zwei Gründen kritisch zu würdigen. Erstens kann vom blossen Vorhandensein der aus dem Ausland gelieferten Daten nicht darauf geschlossen werden, die Steuerverwaltung habe Kenntnis von einer Steuerhinterziehung. Zweitens erscheint der Verweis auf den fehlenden eigenen Antrieb angesichts der einschlägigen Lehre als fragwürdig.

1 Erster Datenaustausch spätestens per 30. September 2018

Die Schweiz hat mit einer ganzen Reihe von Partnerstaaten den globalen Standard für den automatischen Informationsaustausch vereinbart. Eine erste Serie dieser Abkommen, nämlich mit 38 Partnerländern (darunter die 28 EUStaaten), ist am 1. Januar 2017 in Kraft getreten. Der AIA hat den gegenseitigen Austausch von Informationen über Finanzkonten (insbesondere Kontonummer und Steueridentifikationsnummer sowie Name, Adresse und Geburtsdatum) zum Gegenstand und betrifft sowohl natürliche als auch juristische Personen. Der erste Informationsaustausch und damit auch die erste Übermittlung von Steuerdaten der Partnerstaaten an die Schweiz erfolgt spätestens am 30. September 2018. In der Schweiz fungiert die ESTV als Drehscheibe des Informationsaustausches. Sie empfängt die vom Ausland automatisch übermittelten Informationen und ordnet sie den Kantonen zu (Art. 32 Abs. 2 AIAV). Diese Zuordnung erfolgt aufgrund von zuvor durch die Kantone gemeldeten Informationen über die in ihrem Kanton unbeschränkt steuerpflichtigen natürlichen und juristischen Personen (Art. 32 Abs. 1 AIAV). Die so aufbereiteten Daten werden im sogenannten Abrufverfahren den jeweils betroffenen Kantonen zugänglich gemacht (Art. 32 Abs. 3 AIAV). Die entsprechenden Daten werden also nicht automatisch an die Kantone weitergeleitet, sondern müssen von diesen abgerufen werden.

 

2 Uneinheitliche kantonale Praxen

In den Kantonen hat sich zur Frage der Auswirkungen des AIAs auf Selbstanzeigen (noch) keine einheitliche Praxis gebildet.6 Einige Kantone lassen eine straflose Selbstanzeige zu, solange die Steuerverwaltung die entsprechenden Finanzinformationen noch nicht in der Datenbank der ESTV abgerufen hat.7 Andere Kantone stellen darauf ab, ob die von der Datenbank der ESTV abgerufenen Daten von einem Steuerbeamten tatsächlich zur Kenntnis genommen wurden. Daneben gibt es offenbar Kantone mit einer Datums-Guillotine per 1. Januar 2017 oder – analog zur Haltung der ESTV – per 30. September 2018. Der Grossteil der Kantone hat sich (noch) nicht offiziell zu diesem Thema geäussert.

 

3 Die gesetzlichen Voraussetzungen der straflosen Selbstanzeige

Per 1. Januar 2010 wurde im Bereich der direkten Steuern die sogenannte «kleine Steueramnestie» eingeführt. Kernstück dieser Gesetzesnovelle war die vereinfachte Nachbesteuerung der Erben sowie die straflose Selbstanzeige. Letztere ist vorab in Art. 175 DBG und in Art. 56 StHG geregelt. Über die genauen Anforderungen an eine gültige Selbstanzeige gehen die Lehrmeinungen auseinander. Unbestrittenermassen zu den gesetzlichen Voraussetzungen gehört, dass die Widerhandlung keiner Steuerbehörde bekannt sein darf (nachfolgend Ziffer 3.1). Umstritten ist dagegen die Frage, ob die Spontaneität ebenfalls dazu gehört (nachfolgend Ziffer 3.2).

 

3.1 Fehlende Kenntnis der Steuerbehörde

«Kenntnis» ist «von der Person nicht ablösbar ». Sie setzt nach überwiegendem Sprachgebrauch zwingend einen Personenbezug, einen menschlichen Kenntnisträger» voraus. Kenntnis» im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen von Art. 175 DBG und Art. 56 StHG impliziert demnach notwendigerweise eine kognitive Leistung eines Steuerbeamten. Letzteres ist jedoch nicht schon dann gegeben, wenn die entsprechenden Daten bloss auf einem Server zur Verfügung stehen. Dies gilt in einem speziellen Masse angesichts der Besonderheiten des Informationsaustauschverfahrens. In der Tat ist zu erwarten, dass im Rahmen des AIA sehr umfangreiche Datensätze an die ESTV geliefert werden und dort von den Kantonen abgerufen werden können. Diese Datensätze werden aller Wahrscheinlichkeit nach rein computergestützt, d. h. ohne jegliches menschliches Zutun, von den ausländischen Finanzinstituten erstellt, an die jeweiligen Steuerbehörden übermittelt, von dort an die ESTV weitergeleitet, durch die ESTV aufbereitet und den Kantonen zugänglich gemacht. Allen Fortschritten im Bereich von Big Data zum Trotz ist zu erwarten, dass die abgerufenen Informationen noch erhebliche Fehlerquoten aufweisen (so beispielsweise im Falle von Mehrfachnamen in lusophonen Ländern, bei Namensänderungen infolge Verheiratung oder Scheidung oder etwa bei der Transkription von nichtlateinischen Schriftzeichen) und daher von den Steuerverwaltungen nach einer computergesteuerten Filterung zumindest teilweise manuell aufbereitet werden müssen, bevor sie mit eigenen Datenbanken abgeglichen werden können. Erst in diesem Verfahrensstadium wird es den (kantonalen) Steuerbeamten somit möglich sein, vom Vorliegen einer allfälligen Steuerhinterziehung Kenntnis zu erhalten. Dies ist denn auch der früheste Zeitpunkt, ab dem eine straflose Selbstanzeige nicht mehr erfolgreich sein kann. Über die vorgenannte Voraussetzung der tatsächlichen Kenntnisnahme hinaus ist gemäss herrschender Lehre die Kenntnis der Steuerbehörde erst relevant, wenn sie dem Steuerpflichtigen mitgeteilt wird. Nach LOCHER zwingt diese Lösung die Steuerbehörde, das «Verfahren unverzüglich zu eröffnen». Zudem schütze sie den Steuerpflichtigen, der «in guten Treuen davon ausgeht, die Steuerbehörde wisse noch nicht um die Hinterziehung, obwohl sie bereits davon Kenntnis hat». SIEBER/MALLA fordern mit Verweis auf die Strafprozessordnung (Art. 7 Abs. 1 und 309 Abs. 1 lit. a StPO) hinsichtlich des erforderlichen Grades der Kenntnis, dass «die Steuerbehörde mindestens einen zur Eröffnung eines Strafverfahrens hinreichenden Tatverdacht», also einen Anfangsverdacht, haben muss. Dieser zunächst behördeninterne Anfangsverdacht sei darüber hinaus nach aussen zu manifestieren, damit von einer steuerbehördlichen Kenntnis der Hinterziehung ausgegangen werden könne. Massgebliche Behördenkenntnis sei daher erst mit der Einleitung eines Steuerstrafverfahrens und/oder der Eröffnung eines Nachsteuerverfahrens gegeben. Solange ein solches Verfahren nicht förmlich eingeleitet und bekannt gegeben ist, kann sich der Steuerpflichtige somit noch straflos selbst anzeigen. Die publizierte Haltung der ESTV überzeugt somit auch angesichts dieser Lehrmeinungen nicht.

 

3.2 Das Kriterium der Spontaneität

Die am 15. September 2017 publizierte Haltung der ESTV legt dem Leser nahe, dass eine straflose Selbstanzeige aus eigenem Antrieb erfolgen muss, um strafbefreiende Wirkung erzielen zu können. Diese Voraussetzung ist in der Lehre umstritten und ergibt sich so nicht aus dem Wortlaut des (deutschen) Gesetzestextes. Vielmehr soll sich dieses Kriterium gemäss diversen Autoren aus dem französisch- und italienischsprachigen Wortlaut der Normen ergeben. Dem ist klar zu widersprechen, scheinen doch die unterschiedlichen Formulierungen in den drei Sprachvarianten auf eine unpräzise Übersetzung zurückzuführen zu sein. Der Gesetzgeber hat offensichtlich das deutsche Wort «selbst» mit den Begriffszusätzen «spontanément» respektive «spontaneamente» übersetzt, um zum Ausdruck zu bringen, dass es sich nicht um die Anzeige eines Dritten handeln darf. Das Vorliegen einer unpräzisen Übersetzung wird dadurch untermauert, dass das Rechtsinstitut der straflosen Selbstanzeige im italienischen Gesetzestext – der deutschsprachigen Formulierung folgend – mit «autodenuncia esente da pena» übersetzt wird, wogegen einzig die französische Überset zung («dénonciation spontanée non punissable») das Element der Spontaneität enthält.Eine Übersetzung mit «autodénonciation non punissable» wäre unter diesen Umständen genauer gewesen. Die jüngere Doktrin legt denn auch überzeugend und ausführlich dar, dass dem Kriterium der Spontaneität keine eigenständige Bedeutung zukommt, vielmehr unterstreiche es nur die Notwendigkeit einer Unkenntnis der Hinterziehung seitens der Steuerbehörde. Diesen Lehrmeinungen ist ohne Einschränkung zuzustimmen. Dies nicht zuletzt aus Gründen der Rechtssicherheit, wären doch die kantonalen Steuerverwaltungen im Massengeschäft der straflosen Selbstanzeige mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten konfrontiert, wenn sie verwertbare Resultate hinsichtlich der Beweggründe für die Selbstanzeige, also für innere Tatsachen, liefern müssten. Zudem würde das Erfordernis des Handelns aus eigenem Antrieb ohne Stütze im Gesetzestext eine Einengung des Anwendungsbereichs der straflosen Selbstanzeige darstellen und somit dem vom Gesetzgeber explizit verfolgten Ziel, Steuerpflichtige zu motivieren, bisher unversteuertes Vermögen der Legalität zuzuführen und dadurch höhere Steuereinnahmen zu generieren, zuwiderlaufen.

 

4 Schlussfolgerungen

Zwar hätte die publizierte Ansicht der ESTV, wonach ab dem 30. September 2018 in Bezug auf in Anwendung des AIAs den Kantonen zugänglich gemachte Steuerfaktoren keine straflose Selbstanzeige mehr möglich sein soll, zweifellos den Verdienst klare Verhältnisse zu schaffen und damit der Rechtssicherheit zu dienen. Allerdings rechtfertigt es dieses hehre Ziel nicht, eine dem Gesetz zuwiderlaufende Auslegung vorzunehmen. Die von der ESTV propagierte absolute Datums-Guillotine gibt es daher so nicht. Vielmehr haben die kantonalen Steuerverwaltungen wie bis anhin von Fall zu Fall zu entscheiden, ob die Voraussetzungen der straflosen Selbstanzeige vorliegen. Steuerpflichtigen, welche aufgrund von nicht deklarierten Guthaben bei Finanzinstituten in einem AIA-Partnerstaat von der hier besprochenen Problematik direkt betroffen sind, sei geraten, mit ihrer Selbstanzeige nicht zu lange zuzuwarten. Denn das Risiko, dass die zuständige Steuerverwaltung gestützt auf die abgerufenen Informationen ein Nachsteuer- und/oder ein Steuerstrafverfahren einleitet, steigt in nächster Zeit erheblich. Darüber hinaus darf nicht vergessen gehen, dass es sich beim 30. September 2018 um den Zeitpunkt handelt, an dem die Daten spätestens bei der ESTV abgerufen werden können. Nicht ausgeschlossen werden kann daher, dass die einschlägigen Steuerdaten gewisser Partnerstaaten schon früher zur Verfügung stehen. Vernünftigerweise werden sich die betroffenen Steuerpflichtigen somit spätestens im Zeitpunkt der Einreichung der Steuererklärung 2017 ernsthafte Gedanken über die Opportunität einer Selbstanzeige machen müssen.

 

Thomas Bachmann, Steuer Revue 11/2017